11. Online-Enthemmungseffekt

Woher weiß ich, ob ich glücklich bin? Indikatoren dafür sind Emotionen. Diese signalisieren „ob etwas gut oder schlecht, gefährlich oder harmlos ist, und mit welcher allgemeinen Klasse von Verhaltensweisen (z. B. Flucht, Verteidigung) darauf reagiert werden sollte“. Gefühle dienen auch der Bewertung einer Handlung, ob diese befriedigend war – also das Ziel erreicht wurde – oder nicht. Emotion und Motivation sind also stark aneinander gekoppelt.

Daraus erklärt sich einer der wichtigsten Aspekte des menschlichen Wesens: nämlich, dass wir – ob wir wollen oder nicht – eher gefühlsgesteuert als vernunftgesteuert handeln.

2005 riefen Jonathan Harris und Sep Kamvar das Projekt „We feel fine“ ins Leben – ein Kunstprojekt, das im 10-Minuten-Takt das Internet nach der Phrase „I feel…“ oder „I am feeling…“ durchforstete und alle darin ausgesprochenen Emotionen in einer Datenbank speicherte. Mehr als eine Million verschiedene menschliche Gefühle wurden darin gesammelt und auf einer interaktiven Webseite und in einem Buch visualisiert. Das Projekt lief über viele Jahre, der letzte Eintrag war am 24.6.2016.

In diesem Projekt spiegelt sich der Trend einer zunehmenden Emotionalisierung im Internet wider, angetrieben durch User-Generated-Content in Blogs und vor allem in den sozialen Netzwerken. Davon sind inzwischen nahezu alle gesellschaftlichen Bereiche auch außerhalb des Internets betroffen, insbesondere im Marketing und in der Politik – alles ist durchsetzt von Emotionen mit Wutbürgern, Hasspredigern und Politikern, die verstanden haben, dass Emotionen – meist negative – mehr bewirken als Argumente.

Dieses Phänomen, das besonders in einer Online-Umgebung auftritt, ist der sogenannte Online-Disinhibition-Effekt (Online-Enthemmungseffekt), der sich in einer aggressiven Haltung äußert. Beispiele dafür sind Mobbing, und Hassreden, die verheerende Folgen haben können (Selbstmord, Lynchjustiz).

Das Beispiel der Rohingyas in Myanmar zeigt, dass über Facebook verbreitete Hassreden und Aufrufe zu Gewalt sogar zu Völkermord führen konnten. Die Ursache für diesen toxischen Effekt sehen viele Wissenschaftler in der Anonymität, der physischen Unsichtbarkeit und vor allem aufgrund des fehlenden Augenkontakts zum Gegenüber. Aus psychologischer Sicht ist damit die natürliche Hemmschwelle aggressiven Verhaltens stark herabgesetzt.

Dass gerade negative Gefühle viel leichter zu erzeugen sind als positive, ist aus der
Evolutionsgeschichte heraus schnell erklärt; denn negative Gefühle signalisieren Gefahr, aktivieren die Handlungsbereitschaft und können damit existenziell sein. Negative Emotionen sind mächtige innere Trigger: Viele aktuelle Bewegungen wurden aus Angst, Empörung oder Wut heraus geboren, egal ob PEGIDA, Black-Lifes-Matter, Me-Too oder Fridays-for-Future.

Positive Gefühle sind zwar schön, aber nicht überlebenswichtig.

Nach ökonomischen Gesichtspunkten ist daher die Investition in negative Gefühle billiger und gewinnbringender als in positive. „Negative Emotionen wie Angst und Wut lassen sich leichter herbeiführen, und sie halten länger vor als positive – es dauert wesentlich länger, Vertrauen aufzubauen als es zu verlieren.“

Empfehlungen:

Inside the Social Network. (Film)


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